Der Sport als Politikum: Cui bono?
Bei der Fecht-Weltmeisterschaft in Mailand verweigerte die ukrainische Säbelfechterin Olga Charlan nach ihrem Sieg der Gegnerin den im Regelwerk vorgeschriebenen Handschlag – weil diese aus Russland kommt. Zunächst wurde die Ukrainerin dafür disqualifiziert, jedoch wurde die Suspendierung schon kurz darauf wieder aufgehoben. Dafür änderte der Fecht-Weltverband FIE sogar die Regeln und erklärte den Handschlag nicht mehr für verpflichtend. Obendrauf erhielt Charlan vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) eine Startplatzgarantie für die Olympischen Spiele 2024 in Paris, und zwar unabhängig davon, ob sich die 32-Jährige sportlich dafür qualifizieren kann. Willkommen in der schönen neuen Welt des Sports!
Mit Beginn des Ukraine-Krieges hat die westliche Welt in ihrer Solidarität mit der Ukraine versucht, alles Russische und Weißrussische in beinahe wahnhafter Manier aus ihrer Umgebung zu verdrängen – seien es der Verzicht auf russisches Gas und Erdöl, der Rückzug aus bisher beiderseits einträglichen Geschäften oder das Einfrieren von Konten und Transaktionen. Auch beim internationalen Sport wurden die beiden unliebsamen Nationen im Handumdrehen von beinahe allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen. Das IOC hat die Athleten unter strengen Bedingungen kürzlich wieder zu den internationalen Wettbewerben zugelassen und erntet einen Sturm der Entrüstung.
Nach über einem Jahr des Ausschlusses sollen russische und weißrussische Athleten nach dem Willen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) wieder die Chance erhalten, an internationalen Großveranstaltungen teilzunehmen. Die Teilnahme soll an strenge Bedingungen geknüpft sein. So dürften die Sportler nicht unter ihrer Landesflagge, sondern lediglich als „neutrale“ Athleten teilnehmen. Auch nicht in Teams, sondern nur als Einzelsportler. Außerdem dürften die Athleten nicht dem Militär angehören und müssten eine Neutralitätserklärung unterschreiben. Bereits am 22. September 2022 hatten sich die UN-Sonderberichterstatterin für kulturelle Rechte, Alexandra Xanthaki, und die damalige UN-Sonderberichterstatterin für zeitgenössische Formen von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz, E. Tendayi Achiume, an IOC-Präsident Thomas Bach mit einem Schreiben gewandt und darin die Sorge formuliert, russische und weißrussische Athleten würden durch den Ausschluss vom internationalen Sport diskriminiert werden. Die Autorinnen argumentierten vor allem mit menschenrechtlichen Standards, auf Grundlage derer niemand wegen seiner Nationalität diskriminiert werden dürfe. Die Ausübung des Sports sei ein Menschenrecht, außerdem auch das Recht auf Arbeit – was für die Profisportler ja das gleiche ist. Dieser Haltung hatte sich das IOC am 23. Januar 2023 in einem offiziellen Statement angeschlossen und für die Rückkehr der Athleten unter besagten Bedingungen votiert. In dem entsprechenden Schreiben begrüßte das IOC-Exekutivkomitee übrigens die Entscheidung des Asiatischen Olympischen Rates, russische und weißrussische Athleten zu asiatischen Wettkämpfen zuzulassen.1 Wer hätte das gedacht, dass Asien in puncto Menschenrechte dem ach so zivilisierten Westen etwas vormachen würde?
Menschenrechte hin oder her – der Konsens im Westen und in den jeweiligen Sportverbänden lautet weiter: Putin darf keine Chance erhalten, mit dem Erfolg seiner Athleten Kriegspropaganda und eine Rechtfertigung seiner Aktionen zu betreiben!
Der Ausschluss Russlands vom internationalen Sport dürfte vor allem den USA in die Karten spielen, schließlich ist dies eine der Methoden, mit denen die Vereinigten Staaten Russland in die Knie zwingen wollen. Wer jetzt „Verschwörungstheorie“ ruft, sollte Strategiepapiere führender amerikanischer Think Tanks lesen. Beispielsweise steht im Papier der RAND Corporation mit dem vielsagenden Titel „Overextending and Unbalancing Russia“ aus dem Jahr 2019: „Russlands Image im Ausland zu schädigen, heißt, seine Position und seinen Einfluss zu schwächen und damit die Bestrebungen des Regimes zu sabotieren, Russland zu seinem einstigen Glanz zurückzuführen. Weitere Sanktionen, die Entfernung Russlands aus Nicht-UN-Foren und der Boykott von solchen Veranstaltungen wie Weltmeisterschaften wären Maßnahmen, die von westlichen Staaten implementiert werden und Russlands Image schädigen könnten.“2
Aus Deutschland kam auf die Initiative des IOC, russische und weißrussische Athleten wieder zuzulassen, selbstverständlich ein Sturm der Entrüstung. Es sei der völlig falsche Weg, beeilte sich Innenministerin Nancy Faeser zu bekräftigen. Ja, jene Nancy Faeser, die mit Regenbogenbinde am Arm bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar für Spott sorgte. Auch der Sport solle die Verurteilung des brutalen Krieges, den Putin gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führe, deutlich machen. „Große Sportereignisse finden nicht im luftleeren Raum statt“, so Faeser. „Diesen furchtbaren Krieg inmitten Europas darf niemand ausklammern oder zwiespältige Signale senden. Die internationalen Sportverbände bleiben in der Verantwortung, sich eindeutig zu positionieren.“ Den ukrainischen Athleten müsse die uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung der internationalen Sportgemeinschaft gelten. Das gehe nur mit einem Ausschluss Russlands. Die vom IOC angestoßene Wiederzulassung sei ein „Schlag ins Gesicht der ukrainischen Sportler“. 3
Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) beharrt darauf, die unliebsamen Athleten auszuschließen. Dafür hat er eigens ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. In ihrem Gutachten kommt die dafür beauftragte Patricia Wiater, Professorin für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, zu einer interessanten Schlussfolgerung. Der Ausschluss der Athleten nach Nationalität sei zwar unzulässig, wenn er aber gerechtfertigt werden könne, stelle er keine „direkte Diskriminierung“ dar. Als legitime Zwecke, die mit einem Ausschluss russischer Athleten von internationalen Sportwettkämpfen verfolgt werden könnten, käme unter anderem die Wahrung kollidierender Menschenrechte ukrainischer Athleten in Betracht. „Wenn und soweit Menschenrechte ukrainischer Athleten Gefahr laufen, im Rahmen von internationalen Sportwettkämpfen mittelbar oder unmittelbar mit der Kriegssituation konfrontiert zu werden, kann sich dies belastend auf ihr Recht auf psychische Gesundheit, den Schutz ihrer Würde sowie ihr eigenes Recht auf ungestörte Teilnahme am kulturellen Leben und ihr Recht auf Arbeit auswirken.Von derartigen Konfrontationen kann beispielsweise dann ausgegangen werden, wenn ukrainische Athleten bei Sportveranstaltungen miterleben müssen, dass kriegsverherrlichende Symbole zur Schau gestellt werden oder sie in unmittelbaren Wettkampfsituationen gegen Athleten antreten, die dem Aggressorstaat Russland angehören.“ Hinzu kämen friedens-, sicherheits- und ordnungspolitische Zwecke, die bei der Beurteilung der Angemessenheit der Maßnahmen in Betracht gezogen werden müssten, so Wiater. Bei russischen „Athleten, die sich öffentlich und nachweisbar gegen eine Instrumentalisierung ihrer sportlichen Erfolge zu kriegspropagandistischen Zwecken wenden und beispielsweise aufgrund des Widerstands gegen den Krieg oder aus anderen Repressionsgründen aus Russland geflohen sind, im Exil leben, aber nach wie vor russische Staatsbürger sind“, sei eine Wiederzulassung unter den vom IOC genannten Bedingungen ein „vorzugswürdiges milderes Mittel“. Für alle anderen komme dies jedoch nicht in Betracht. „Der Ausschluss russischer Athleten ist in der Konsequenz trotz der damit verbundenen Ungleichbehandlung aufgrund von Nationalität nicht als Verstoß gegen internationale Menschenrechte zu klassifizieren und somit zulässig“, schließt Wiater.4
Menschenrechte sind offenbar nicht in Stein gemeißelt und können verbogen werden, wenn es gerade erforderlich ist. Im Falle der Athleten aus Belarus gehen die Sanktionen so gesehen noch ein bisschen weiter, denn schließlich ist das Land keine Kriegspartei und gilt lediglich als Unterstützer Russlands. Aber dem DOSB und den meisten internationalen Sportverbänden und Athletenvertretungen scheint die Begründung hinreichend – sie beharren weiterhin auf dem Ausschluss Russlands und Belarus vom internationalen Sport. Und weil die Entscheidungsgewalt über die Zulassung nicht beim IOC, sondern bei den Weltverbänden der einzelnen Sportarten liegt, dürften die Olympischen Spiele in Paris vermutlich auch gänzlich oder weitestgehend ohne russische und weißrussische Beteiligung ablaufen.
Polen zeigt, wie der Hase läuft
Wenig überraschend gehört Polen zu den lautesten Kritikern der IOC-Entscheidung und denkt gar nicht daran, russische und weißrussische Sportler wieder zu den Wettbewerben zuzulassen. So ignorierte Polen die Entscheidung des IOC und verzichtete darauf, Athleten aus Russland und Belarus zu den vom 21. Juni bis zum 2. Juli 2023 in Krakau stattfindenden European Games einzuladen. Bei dem Wettbewerb wurden in zwölf Sportarten Europameisterschaften ausgetragen. In neunzehn weiteren ging es um Quotenplätze und Ranglisten für die Olympischen Spiele in Paris. „Zunächst einmal gibt es ja auf übergeordneter Ebene eine politische Entscheidung, was die Einreise von Russinnen und Russen in die EU angeht“, erklärte der Professor für Europastudien Timm Reichelt von der Europa-Universität Viadrina. „Und jetzt, rein formal, macht die polnische Regierung nichts anderes, als darauf einzugehen und keine Ausnahme für Sportlerinnen, Sportler oder auch Delegationen zu machen.“ Außerdem sei Polen mit seiner Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad ein direkter Nachbar von Russland, und die Betroffenheit über das, was mit der Ukraine geschehen sei, sei besonders ausgeprägt. Der Kommunikationsdirektor der European Games, Dawid Glen, musste jedoch einräumen, dass nicht alle Verbände die Entscheidung über den Ausschluss Russlands und Weißrusslands mittragen wollten. „Sie kannten unsere Entscheidung und wollten unsere Entscheidung ändern. Aber wir haben gesagt: Wenn ihr Sportler aus diesen Ländern dabei haben wollt, hat euer Sport keinen Platz bei den Spielen“, so Glen. Wie absurd sich das Ganze dann in der Realität abspielt, zeigt das Beispiel der Fechter. Der Fecht-Weltverband konnte zwar durchsetzen, dass russische Fechter als neutrale Athleten antreten und auch Punkte für die Olympia-Qualifikation sammeln konnten, doch mussten die Wettbewerbe dafür von Krakau ins bulgarische Plovdiv verlegt werden. Die Team-Wettbewerbe im Fechten, bei denen Russland und Belarus nach der jetzigen Regelung eh nicht hätten antreten dürfen, fanden wie geplant in Krakau statt.5 In Mailand treten Russen und Weißrussen als neutrale Athleten bei den Einzelwettbewerben an, dennoch kann von normalen Wettkämpfen keine Rede sein, wie der Eklat um Charlan und den verweigerten Handschlag für die Russin Anna Smirnowa zeigt. Schon dass die Ukrainerin überhaupt gegen die Russin angetreten ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Die ukrainische Regierung hatte ihren Sportlern nämlich zunächst untersagt, gegen russische und weißrussische Sportler zu kämpfen. Am vergangenen Mittwoch (26.07.2023) weichte sie das Startverbot aber wieder auf, indem sie die Vorgabe so umformulierte, dass nur Kämpfe gegen Athleten verboten seien, „die die Russische Föderation oder die Republik Belarus repräsentieren“. Bevor diese Umkehr in die Wege geleitet wurde, hatte der ukrainische Degenfechter Igor Reislin auf den Kampf gegen den Russen Wadim Anochin und damit auf eine mögliche Medaille verzichten müssen.6
In der deutschen Berichterstattung und unter Sportlern und Verantwortlichen sind die Reaktionen auf den verweigerten Handschlag Charlans bemerkenswert parteiisch. So sucht man vergeblich nach Stimmen, die die Rücknahme der Disqualifikation und die dafür vorgenommene Regeländerung kritisieren oder daran erinnern, dass individuelle Befindlichkeiten oder politische Symbole und Symbolhandlungen im Sport nichts verloren haben. Oder solche, die wenigstens hinterfragen, warum Charlan einen Quotenplatz für Olympia 2024 geschenkt bekommt. So sagte der ehemalige deutsche Fechter und Athletensprecher Max Hartung bezüglich des Duells von Charlan und Smirnowa, es sei leider zu befürchten gewesen, dass so ein Fall eintreten würde. „Für den Wettkampf und Olga ist es sehr schade und traurig.“7 Und IOC-Präsident Thomas Bach sicherte Charlan nicht nur den Quotenplatz für Paris 2024 zu, sondern verfasste sogar einen persönlichen Brief an die Ukrainerin. „Für mich ist es unmöglich, mir vorzustellen, wie Sie sich in diesem Moment fühlen“, so Bach. „Der Krieg gegen ihr Land, das Leid der Menschen in der Ukraine, die Ungewissheit über Ihre Teilnahme an der Fecht-Weltmeisterschaft in Mailand, die schweren inneren Konflikte, die Sie und viele Ihrer ukrainischer Mitsportler möglicherweise haben, und dann die Ereignisse, die sich gestern zugetragen haben – das alles ist eine Achterbahn der Gefühle.“ Der IOC-Chef sicherte Charlan seine „volle Unterstützung“ zu.8 Smirnowa hingegen, die nach dem verweigerten Handschlag aus Protest gegen den Regelbruch noch 45 Minuten auf der Fechtbahn blieb, erfuhr keine Anteilnahme. Von internationaler Empörung gegen die Respektlosigkeit seitens Charlan und die Regeländerung zu ihren Gunsten war ebenfalls nichts zu vernehmen.
Boykott der Spiele von Paris?
Bei dem offensichtlich ganz und gar unerträglichen Gedanken, russischen und weißrussischen Sportlern, ob unter deren Flagge oder als neutrale Athleten im Wettkampf gegenüberstehen zu müssen, hatte die Ukraine angedroht, im Falle von deren Zulassung die Olympischen Sommerspiele von Paris, die vom 26. Juli bis zum 11. August 2024 stattfinden sollen, zu boykottieren. „Wir haben den großen Wunsch, sie so lange nicht zu sehen, wie der Krieg nicht mit unserem Sieg endet“, sagte der ukrainische Sportminister und NOK-Chef Wadym Hutzajt. Sollten die Sportler dennoch zugelassen werden, erwäge sein Land einen Boykott. Medienberichten zufolge könnten sich einem solchen Boykott der Spiele von Paris auch einige andere Länder anschließen. So verkündete beispielsweise Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas: „Die Teilnahme russischer und belarussischer Sportler ist einfach falsch. Ein Boykott ist also ein nächster Schritt.“9
Angesichts solcher Drohungen muss man sich fragen: Ist das Gedächtnis der betreffenden Politiker so schlecht oder glauben sie, mit einer bloßen Boykottandrohung die Weichen zu den eigenen Gunsten stellen zu können? Denn was hat ein Olympia-Boykott jemals gebracht? Dem Aufruf der USA folgend, hatten 42 weitere NOKs, darunter auch das NOK der BRD, auf die Entsendung ihrer Athleten zu den Olympischen Sommerspielen von Moskau 1980 verzichtet. Offizielle Begründung war damals der Protest gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan 1979. Daneben kalkulierten die US-Strategen einen großen Image-Schaden und große finanzielle Verluste durch das Fernbleiben so vieler Olympia-Mannschaften für die UdSSR ein. Was war das Ergebnis? Die Sowjetunion setzte ihre militärische Offensive in Afghanistan ungerührt fort und finanzielle Verluste hatte nicht nur der Gastgeber, sondern auch die boykottierenden Staaten wie die USA. So hatte die US-Fernsehgesellschaft NBC Verluste in Millionenhöhe,weil sie die Spiele nicht übertrug und die Werbeeinnahmen wegfielen.10 Den größten Schaden jedoch hatten die Athleten selbst, die durch die Boykott-Entscheidung ihres jeweiligen NOK und ohne eigenes Mitspracherecht auf die Teilnahme an den Spielen verzichten mussten. Für manche wäre Olympia 1980 die einzige Chance in ihrer sportlichen Karriere gewesen, an Olympischen Spielen teilzunehmen und vielleicht mit Edelmetall zurückzukehren. Denn eine solche Spitzenform lässt sich nicht beliebig lange halten, und Olympische Spiele finden nur einmal in vier Jahren statt. Während die DDR in Moskau mit 362
Athleten an der Start ging und mit 47 Goldmedaillen, 37 silbernen und 42 Bronzemedaillen Platz zwei hinter der Sowjetunion belegte, die sich 80 Mal Gold, 69 Mal Silber und 46 Mal Bronze sichern konnte, mussten die westdeutschen Sportler zu Hause bleiben und zusehen, wie andere, teils schwächere Athleten olympisches Edelmetall holten. Viele erinnern sich bis heute mit Bitterkeit an diese Momente. So traten Handball-Legende Heiner Brand und seine Teamkollegen Kurt Klühspies, Manfred Hofmann und Rudi Rauer damals tief enttäuscht aus dem westdeutschen Handball-Nationalteam aus. „Ich bin gegen jede Form von Boykott im Sport“, sagt Brand auch heute noch. „Das ist das Allerschlimmste, was einem Athleten passieren kann.“11So wie Brand dachten und denken bis heute viele Sportler, die wegen der Politik ihrer Länder auf die Olympia-Chance verzichten mussten. Den Sportlern der Ostblockstaaten erging es freilich nicht viel besser, denn deren NOKs boykottierten vier Jahre später die Olympischen Sommerspiele von Los Angeles. Neben der Sowjetunion waren es 37 Staaten, die auf die Olympiateilnahme verzichteten. Neben der symbolischen Antwort auf den Olympia-Boykott der USA und ihrer Unterstützer vier Jahre zuvor hatte auch dieser Boykott nur einen Effekt: Den eigenen Sportlern den Höhepunkt ihrer sportlichen Karriere zu versagen.
Zumindest IOC-Präsident Thomas Bach scheint nicht vergessen zu haben, was ein Olympia-Boykott für einen betroffenen Athleten bedeutet. „Die Erfahrung von 1980 prägt mich bis heute“, so Bach, der damals bereits Fecht-Olympiasieger, mehrfacher Weltmeister im Florett-Fechten und Athleten-Sprecher war. Das Votum für den Boykott habe er damals nicht verhindern können, geblieben seien Wut und Enttäuschung. Daraus habe er für seine spätere Tätigkeit als Sportfunktionär und schließlich IOC-Präsident das Selbstverständnis und die Motivation geschöpft. „Nach unserer Auffassung kann eine wie auch immer zusammengesetzte Gruppe nicht per Mehrheit über das Recht eines individuellen Athleten entscheiden“, sagte Bach 2020 gegenüber Sportbuzzer.12
Dass er mit politisch motivierten Strafmaßnahmen gegen Sportler und ganze Sportnationen vorsichtig ist, hat Bach als IOC-Präsident schon in der Vergangenheit bewiesen, als es etwa um den kollektiven Ausschluss russischer Sportler im Zusammenhang mit dem in den Icarus-Enthüllungen unterstellten systematischen Doping ging. Während es anderen gar nicht schnell genug gehen und drastisch genug sein konnte, hatte Bach sich nicht durch erhöhten Eifer ausgezeichnet, die russischen Sportler in Kollektivhaft zu nehmen und von den Wettbewerben auszuschließen. In der aktuellen Debatte erklärte das IOC bezüglich eines möglichen Boykotts der Spiele entsprechend, es sei äußerst bedauerlich, diese Diskussion in diesem frühen Stadium mit einer Boykott-Drohung eskalieren zu lassen. „Ein Boykott ist ein Verstoß gegen die Olympische Charta, die alle NOKs verpflichtet, an den Spielen der Olympiade teilzunehmen, indem sie Athleten entsenden.“ 13 An die Politiker, die einen Boykott fordern, gewandt, sagte IOC-Präsident Bach: „Es steht den Regierungen nicht zu, zu entscheiden, wer an welchen Sportwettbewerben teilnehmen darf, denn das wäre das Ende der internationalen Sportwettbewerbe und der Olympischen Spiele, wie wir sie kennen.“ Die Geschichte werde zeigen, wer mehr für den Frieden tue – „diejenigen, die versuchen, Grenzen offen zu halten und zu kommunizieren, oder diejenigen, die isolieren und spalten wollen“.14
Moralisch, praktisch, gut
Das Argument, Putin würde den Sport als Propagandainstrument nutzen und etwaige sportliche Erfolge entsprechend ausschlachten, um sein Regime zu rechtfertigen, hat gleich in mehrfacher Hinsicht ein Geschmäckle. Dient der Sport nicht immer der „Propaganda“, wenn man so will? Stärkt das Mitfiebern mit der eigenen Fußball-Nationalmannschaft oder dem Top-Biathleten nicht das Nationalgefühl – egal, in welchem Land und bei welcher Nationalität? Ist es nicht so, dass während einer Fußball-Weltmeisterschaft quer durch die Bundesrepublik schwarz-rot-goldene Fahnen und Fähnchen von Balkonen und Autospiegeln wehen, es in jedem Supermarkt Devotionalien jeglicher Form in Nationalfarben zu kaufen gibt und man allerorten Leute in Deutschland-Trikots sieht, selbst wenn sie vielleicht noch in den Kindergarten gehen oder der Habitus seines Trägers darauf hindeutet, dass er einer Ertüchtigung wie Fußball eher fern steht? Sind die Kneipen und andere Public-Viewing-Lokalitäten nicht brechend voll, wenn „wir“ spielen? Jeder und jede ist in dieser besonderen Zeit plötzlich Fußball-Experte und gibt Prognosen ab, auch wenn er oder sie nicht einmal in der Lage ist, ein Abseits zu erklären. Ganz genau so ist es doch, wenn wir ehrlich sind. Und das ist normal und braucht keinen despotischen Herrscher und seine Propagandainstrumente. Aber offenbar ist es im Falle Russlands nicht okay, wenn Russen sich für russische Sportler freuen und ihre Erfolge feiern.
Der Weltsport ohne Russland und Belarus ist neben dem guten Gefühl, deren Propaganda durch den Sport das Handwerk gelegt zu haben, auch noch ungemein praktisch in jenen Sportarten, wo die beiden Länder traditionell zum Kreis der Mitfavoriten gehören, beispielsweise beim Biathlon oder Eishockey, oder die Sportart sogar dominieren, wie Russland es im Eiskunstlauf der Damen oder bei der Rhythmischen Sportgymnastik tut. Ohne diese Konkurrenz kann auch Deutschland plötzlich Silber bei der Eishockey-Weltmeisterschaft 2023 holen. Nur um das ins Verhältnis zu setzen: Silbermedaillen bei Eishockey-Weltmeisterschaften gab es für Deutschland zuvor nur 1930 und 1953, und das waren auch die einzigen Podestplätze. Bei den Olympischen Winterspielen 2018 gelang der deutschen Mannschaft tatsächlich der ganz große Erfolg mit dem Einzug ins Finale, wo sie dann von Russland geschlagen wurde. Apropos geschlagen: Die höchste Niederlage, die die Mannschaft der Bundesrepublik je hatte einstecken müssen, war ein 0:17 gegen die UdSSR im Jahr 1972. Wenn man zum Vergleich die Ergebnisse der russischen Eishockeynationalmannschaft heranzieht, nach Zusammenbruch der Sowjetunion wohlgemerkt, so kann sie neben dem Olympiasieg 2018 auch noch fünf Weltmeistertitel vorweisen (1993, 2008, 2009, 2012, 2014). Man muss kein Genie sein, um zu begreifen, dass der Weg zum Erfolg ohne Russland auf dem Eis für die anderen Nationen ein wesentlich leichterer ist.
Übrigens scheint die russische Nationalität im Weltsport nur dann problematisch und potentiell gefährdend für die psychische Gesundheit der ukrainischen Athleten zu sein, wenn die betreffenden Sportler für Russland starten. Verrückt, oder? Und abermals ungemein praktisch für Länder, die russische Sportler bei sich aufnehmen und plötzlich in Sportarten die Konkurrenz deklassieren, in denen sie vorher keinen Blumentopf gewinnen konnten. Ein Beispiel ist der Tennis-Star Jelena Rybakina. Die 24-jährige Russin wurde in Moskau geboren und belegt in der Weltrangliste der Damen im Einzel derzeit Platz drei hinter der Polin Iga Swiatek und der Weißrussin Aryna Sabalenka. Bis 2018 startete Rybakina für Russland, jetzt tritt sie für Kasachstan an. Und plötzlich ist Kasachstan eine Tennis-Nation! Welch großer Zugewinn durch Rybakina für den kasachischen Tennissport entstanden ist, wird deutlich, wenn man sich die Platzierungen der anderen Top-Spielerinnen der kasachischen Tenniswelt ansieht. So liegt Kasachstans nächstbeste Tennis-Spielerin Julija Putinzewa auf Rang 56, danach kommt lange nichts, und dann folgen die Ränge 435, 500, 785, 1030.
Ein anderes Beispiel ist Darja Varfolomeev. Die 16-jährige Russin, die vor vier Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen ist, beschert der Bundesrepublik seit 2022 Podestplätze bei Europa- und Weltmeisterschaften in der Rhythmischen Sportgymnastik. Im Mai hatte Varfolomeev in Baku ihren ersten EM-Titel gewonnen. Und im Juni 2022, als die junge Russin bei den Europameisterschaften in Tel Aviv gleich mehrfach glänzte, titelte die Sportschau: „Varfolomeev holt erste deutsche Medaillen seit 42 Jahren“. 15 Ja, da kann man doch stolz drauf sein! Dass der Großteil der sportlichen Ausbildung der jungen Athletin, die seit ihrem dritten Lebensjahr Rhythmische Sportgymnastik betreibt, in Russland erfolgt ist – geschenkt! Dass sie trotz deutscher Staatsbürgerschaft einen russischen Namen trägt und ethnische Russin ist – wen stört’s? Hauptsache, Deutschland ist wieder wer in Sachen Rhythmische Sportgymnastik.
Bei beiden genannten Sportlerinnen ist es zwar so, dass sie vor Ausbruch des Ukraine-Krieges das Land – und im Falle Varfolomeevs auch die Staatsbürgerschaft – gewechselt hatten, jedoch tut das nichts zur Sache, wenn russische Athleten aufgrund ihrer Nationalität aus dem Weltsport verbannt werden. Man muss dazu sagen, dass im Tennis russische und weißrussische Athletinnen und Athleten, anders als in den meisten anderen Sportarten, weiterhin starten dürfen. Doch auch sie bekommen die Auswirkungen des Ukraine-Krieges und der damit verbundenen Hetze gegen alles Russische und Weißrussische zu spüren. So klagte jüngst die Weltranglistenzweite, Aryna Sabalenka, bei den Miami Open, sie habe noch nie „so viel Hass in der Umkleidekabine erlebt“. Die Ukrainerin Lesia Tsurenko hatte sich sogar geweigert, gegen die Weißrussin zu spielen. Ihr Trainer Nikita Vlasov sagte im Gespräch mit dem ukrainischen Portal Tribuna in Richtung Sabalenka: „Es ist deine Schuld, du unterstützt das blutige Regime deines Diktators. Du hast ihn gewählt, du stehst komplett auf seiner Seite.“ Die 24-Jährige unterstütze Lukaschenkos Aktionen gegen die Ukraine, so Vlasov weiter. „Die schrecklichen Ereignisse sind auch deine Schuld, Aryna. Wie alle anderen, die auf der Seite der Regime in Belarus und Russland stehen.“ Der gemeine Beobachter und Sportsfreund wird sich jetzt vielleicht fragen: Woher weiß der das? Woher weiß ein ukrainischer Tennistrainer, wen die weißrussische Spielerin gewählt hat? Und woher weiß er, dass sie den Krieg in der Ukraine befürwortet? Hat er persönlich einen Gesinnungstest bei ihr durchgeführt? Laut Eurosport soll Sabalenka eigentlich auf der ukrainischen Seite stehen. 16
Finger weg vom Sport!
In der ganzen Debatte um den Ausschluss Russlands und Belarus vom internationalen Sport und die mögliche Rückkehr in denselben, auch wenn unter restriktiven und fragwürdigen Bedingungen, möchte man den Verantwortlichen zurufen: Lasst den Sport in Ruhe! Wann wurden die USA und ihre NATO-Verbündeten jemals für ihre zahlreichen blutigen und völkerrechtswidrigen Kriege durch derlei Maßnahmen bestraft? Niemals. Und das ist richtig so! Der Sport und die einzelnen Athleten haben nämlich nichts damit zu tun und sollten die Folgen nicht ausbaden müssen. All diejenigen, die sich mit Geifer vorm Mund dafür „stark“ machen, die russischen und weißrussischen Athleten aus dem internationalen Sport (auf unabsehbare Zeit) zu verbannen, machen sich nicht nur der Diskriminierung schuldig, sondern vergessen die Grundprinzipien des Sports, wonach dieser verbinden statt trennen soll. Es ist kein Zufall, dass das Zeigen politischer Symbole in der Olympischen Charta untersagt ist. Natürlich ist jeder Athlet auch ein Mensch und hat ein Recht darauf, eine politische Meinung zu haben und diese auch zu bekunden – aber eben nicht auf der Bühne des Sports, egal, wie „richtig“ diese Haltung sein mag.
Quellen
1 https://cdn.dosb.de/uploads/DOSB_Gutachten_Wiater_fin.pdf
2 https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html
3 https://www.bundestag.de/resource/blob/950868/5066ac0c7b433fd9496bc4d48e160ebc/WD-10-017-23-pdf-data.pdf
4 https://www.bundestag.de/resource/blob/950868/5066ac0c7b433fd9496bc4d48e160ebc/WD-10-017-23-pdf-data.pdf
5 https://www.deutschlandfunk.de/russische-sportler-olympia-quali-100.html
6 https://www.sportschau.de/fechten/ukrainer-charlan-russin-smirnowa-fechten-100.html
7 https://www.sportschau.de/fechten/ukrainer-charlan-russin-smirnowa-fechten-100.html
8 https://www.zeit.de/sport/2023-07/wm-im-fechten-weltverband-suspendierung-olha-charlan-aufgehoben
9 https://www.zdf.de/nachrichten/sport/boykott-drohung-olympia-2024-ukraine-ioc-russland-100.html
10 https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische_Sommerspiele_1980#Boykott
11 https://taz.de/Olympiaboykott-1980-im-Rueckblick/!5184927/
12 https://www.sportbuzzer.de/olympia/ioc-praesident-bach-erinnert-an-olympiaboykott-1980-nationen-von-egoismus-getrieben-723BFFABBF7DD3AD5B63DD6A37.html
13 https://www.zdf.de/nachrichten/sport/boykott-drohung-olympia-2024-ukraine-ioc-russland-100.html
14 https://www.zdf.de/nachrichten/sport/ioc-bach-russland-100.html
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15 https://www.sportschau.de/regional/swr/swr-varfolomeev-holt-erste-deutsche-medaillen-seit-42-jahren-100.html
16 https://www.nau.ch/sport/tennis/belarussin-sabalenka-spricht-offen-uber-anfeindungen-66456602